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Vorläufige Einstellung d. N.

Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Anforderungen

Unverletzlichkeit des Eigentum

Problemstellung

Der EGMR hat mit seinem im Fall Gaygusuz gefällten Urteil [31] bereits im Jahr 1996 klargestellt, dass der öffentlich-rechtliche Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung (im Anlassfall: Notstandshilfe) unter den Eigentumsbegriff und daher den Schutzbereich des Art. 1 des 1 ZPEMRK fällt. Auch der VfGH hat diese Ansprüche inzwischen unter das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentum nach Art 5 StGG und Art 1 des 1. ZPEMRK subsumiert. [32] Den genannten Verfassungsvorschriften ist zu entnehmen, dass Eingriffe in das Eigentumsrecht nur in den Fällen und in der Art erfolgen dürfen, welche das Gesetz bestimmt. Wird demnach ohne jegliche gesetzliche Grundlage in das Eigentum eingegriffen, so stellt das eine Verletzung des Grundrechts dar. [33] Genau das ist bei den vorläufigen Leistungseinstellungen im Zusammenhang mit Geldleistungen aus der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung aus den vorstehend dargelegten Gründen (siehe unten ) der Fall, weshalb die in Rede stehende Praxis des AMS auch diesem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht widerstreitet.

Muster-Schreiben bei vorläufiger rechtswidriger Bezugseinstellung 21.07.2009

“Vorläufige” Einstellung der Notstandshilfe (VA 369-SV/01, VA 461-SV/01)

Problemstellung

Im Bereich der Arbeitslosenversicherung kommt es immer wieder zu “vorläufigen” Leistungseinstellungen (Einstellungen des Arbeitslosengeldes/der Notstandshilfe), wenn sich für das AMS Verdachtsmomente ergeben, die auf die Möglichkeit eines Anspruchsverlustes hindeuten. Bereits mit Beginn des Ermittlungsverfahrens, das sich durchaus über einige Wochen hinziehen kann, wird eine “vorläufige” Leistungseinstellung verfügt, für die es im AlVG jedenfalls keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage gibt. Der Versicherte erhält lediglich eine standardisierte schriftliche Mitteilung, die ihren äußeren Merkmalen nach keine Bescheidqualität aufweist.

Ausgangspunkt für die nachfolgenden verfassungsrechtlichen Überlegungen ist der außer Streit stehende Umstand, dass ein Anspruchswerber bei Vorliegen der gesetzlich festgelegten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf die Auszahlung von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe hat. Bei solchen Leistungen handelt es sich um existenzsichernde Versicherungsleistungen, die den Betroffenen in die Lage versetzen sollen, seinen Lebensunterhalt bzw. jenen seiner Familienangehörigen für die Dauer einer Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitssuche zu bestreiten. Die verfassungsrechtlich gebotene Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs gegenüber der Verwaltung [1] sichert § 47 zweiter Satz AlVG, der die Erlassung eines Bescheides vorsieht, wenn der Anspruch nicht (vollständig) anerkannt wird. Im gegebenen Zusammenhang stellt sich sohin die Frage, ob die Praxis des AMS, noch vor Erlassung entsprechender Bescheide auf der Grundlage von bloßen Mitteilungen “vorläufige” Leistungseinstellungen zu verfügen, den einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht.


Dies ist nach Ansicht der Volksanwaltschaft aus folgenden Überlegungen zu verneinen:

Die in Rede stehende Vorgangsweise widerstreitet der von Verfassungs wegen gebotenen faktischen Effizienz des Rechtsschutzes. Wie der VfGH erstmals in VfSlg 11.196/1986 ausgesprochen hat, geht es im Lichte des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzsystems nicht an, “den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potenziell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung solange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist.” Der VfGH hat diese Rechtsmeinung in den vergangenen 15 Jahren wiederholt bekräftigt. [2]

Diese Rechtsprechung ist selbstredend für den gesamten Bereich der Verwaltung einschließlich des Bereichs des AlVG maßgeblich. [3] Es ist daher zweifellos verfassungswidrig, einen Arbeitslosengeld- bzw. Notstandshilfebezieher solange vom Weiterbezug der ihm grundsätzlich zuerkannten Leistung auszuschließen, bis über das Vorliegen eines den (befristeten) Verlust seines Anspruches begründenden Umstandes endgültig entschieden ist. Gerade diese verfassungsrechtlich verpönte Konsequenz zieht jedoch die in Rede stehende Praxis des AMS (deren versuchte Rechtfertigung – Vermeidung rechtswidriger Überbezüge – im Lichte der vorstehend zitierten Rechtsprechung schon vom Ansatz her keine verfassungsrechtliche Relevanz zukommt) nach sich: Die nicht im Wege eines Bescheides, sondern auf Grund einer bloßen Mitteilung – die mangels Bescheidcharakters (vgl. hiezu unten 3.) mit den durch das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem bereitgestellten Mitteln nicht bekämpft werden kann – angeordnete “vorläufige” Leistungseinstellung führt nämlich wesensmäßig dazu, dass der Arbeitslosengeld- bzw. Notstandshilfebezieher bis zur Erlassung des Bescheides (und darüber hinaus bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung) stets einseitig mit allen Folgen einer potenziell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung belastet wird.


Wie bereits vorstehend erwähnt, kann sich die in Rede stehende Vorgangsweise des AMS zudem auf keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage stützen. Die – schon im Hinblick auf das im Art. 18 Abs. 1 B-VG verankerte Legalitätsprinzip in methodischer Hinsicht durchaus fragwürdige – Annahme einer aus verschiedenen Bestimmungen des AlVG allenfalls abzuleitenden impliziten Ermächtigung zu einer solchen Vorgangsweise ist nach dem zuvor Gesagten schon aus dem Grunde unzulässig, weil sie den solcherart ausgelegten Normen einen dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes widerstreitenden und somit verfassungswidrigen Inhalt unterstellen würde. Erlaubt eine Regelung jedoch mehrere Interpretationen, so ist nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH [4] stets jener Auslegung der Vorzug zu geben, der die auszulegende Bestimmung als verfassungskonform erscheinen lässt. [5]

Es ist daher zusammenfassend festzuhalten, sich die Praxis der “vorläufigen” Leistungseinstellung im AlVG keine gesetzliche Deckung findet. Da eine gesetzliche Grundlage für die in Rede stehenden Leistungseinstellungen bei verfassungskonformer Interpretation der hiefür allenfalls in Frage kommenden Bestimmung(en) nicht existiert, steht die gegenständliche Vollzugspraxis auch klar in Widerstreit mit dem in Art 18 Abs. 1 B-VG verankerten Legalitätsprinzip, weil die ohne Bescheid verfügte Leistungseinstellung überhaupt rechtsgrundlos erfolgt.


Die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken könnten freilich vollständig ausgeräumt werden, wenn die angeprangerten “vorläufigen” Leistungseinstellungen bescheidmäßig angeordnet würden. Die von der Leistungseinstellung Betroffenen hätten diesfalls nämlich die Möglichkeit, dagegen eine Berufung einzubringen, die unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung führen kann. Angesichts des Gebots, auch Vollzugshandeln wenn möglich verfassungskonform zu interpretieren, ist sohin zu überlegen, ob den formlosen Mitteilungen, mit denen das AMS die Betroffenen von der “vorläufigen” Leistungseinstellung verständigt, Bescheidcharakter zuerkannt werden kann.

In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die in Rede stehenden Mitteilungen nicht die äußere Form von Bescheiden aufweisen. Nach dem Willen des AMS erfüllen sie offenkundig lediglich den Zweck, den Betroffenen von der vorgenommenen “vorläufigen” Leistungseinstellung als einem “unselbstständigen Verfahrensschritt” zu informieren, ohne dass damit eine Änderung seiner Rechtsposition beabsichtigt ist (diese soll ja erst durch den Bescheid über den “endgültigen” Anspruchsverlust erfolgen).


Der VfGH hat zur Frage, wann eine nicht die formellen Merkmale eines Bescheides aufweisende Erledigung dennoch als Bescheid zu qualifizieren ist, eine reichhaltige Rechtsprechung entwickelt. [6] Dieser zufolge ist für den Bescheidcharakter nicht nur die äußere Form, sondern auch der Inhalt der Erledigung maßgeblich. Von entscheidender Bedeutung ist, ob die Behörde den Willen hatte, mit der Erledigung gegenüber einer individuell bestimmten Person die normative Regelung einer konkreten Verwaltungsangelegenheit zu treffen. [7] Auf dem Boden dieser Rechtsprechung scheint eine Qualifikation der in Rede stehenden Mitteilungen als Bescheide prima facie nicht in Betracht zu kommen, da das AMS mit ihnen eben gerade keine normative Regelung einer konkreten Verwaltungsangelegenheit beabsichtigt, sondern lediglich über die faktisch vorgenommene Leistungseinstellung informieren will. Für die gegenteilige Auffassung spricht jedoch der Umstand, dass bei der hier gegebenen Sach- und Rechtslage die Erlassung eines Bescheides aus den vorstehend dargelegten Gründen von Verfassungs wegen geboten ist, weshalb es nicht von vornherein unzulässig erscheint, die vorliegenden Mitteilungen dennoch als Bescheide zu qualifizieren, weil das Gebot der verfassungskonformen Interpretation die Qualifikation einer Erledigung als Bescheid auch gegen den Willen der erledigungserlassenden Behörde zulassen müsste. [8] Zu beachten ist dabei allerdings auch die Rechtsprechung des VfGH, wonach die Frage nach dem Bescheidcharakter einer Erledigung bei einer von der Behörde herbeigeführten Unklarheit, ob einer Erledigung normative Wirkung zukommt oder nicht, nicht zu Lasten der Partei beantwortet werden darf, [9] deren Konsequenzen für die vorliegende Fallkonstellation im gegebenen Rahmen nicht abschließend beurteilt werden können.

Da eine höchstgerichtliche Klärung dieser Rechtsfrage – soweit ersichtlich – nicht vorliegt, [10] sieht sich die Volksanwaltschaft veranlasst, abschließend noch einmal darauf hinzuweisen, dass die in Rede stehenden Erledigungen in der Verwaltungspraxis offenkundig nicht als Bescheide qualifiziert werden, womit eine verfassungswidrige Vorgangsweise eingeschlagen wird, deren Folgen jeden Bürgerinnen und Bürger zu (er)tragen haben, über die eine “vorläufige” Leistungseinstellung verhängt wird.

[31] Teilweise abgedruckt in ÖJZ 1996, 955.
[32] VfSlg. 15.129/1998.
[33] So zB VfSlg. 10.956/1986.

[1] Dass durch generelle Normen eingeräumte Rechte von Verfassungs wegen gegen die Verwaltung durchsetzbar sein müssen, ist seit langem ständige Rechtsprechung des VfGH. Vgl. hiezu etwa Thienel, Der mehrstufige Verwaltungsakt (1996) 49 FN 148.
[2] Siehe zB VfSlg 12.683/1991, 13.003/1992, 13.182/1992, 13.223/1992, 13.305/1992, 13.493/1993, 14.374/1995, 14.548/1996, 14.671/1996, 14.765/1997, 15.218/1998 und 15.511/1999.
[3] Siehe nur VfSlg. 15.511/1999, mit dem § 56 Abs. 2 AlVG als verfassungswidrig aufgehoben wurde, weil mit ihm die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ex lege ausgeschlossen wurde.
[4] Siehe etwa VfSlg. 11.466/1987, 12.766/1991, 14.986/1997 und 15.784/2000.
[5] Nur am Rande sei erwähnt, dass die in Rede stehenden Mitteilungen regelmäßig überhaupt nicht begründet werden, obwohl sie für die Betroffenen erhebliche Nachteile (die Einstellung gewährter Leistungen) nach sich ziehen. Nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 12.184/1989) stünde eine gesetzliche Bestimmung, die eine Behörde zur Erlassung eines begründungslosen belastenden Bescheides ermächtigt, in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip. Wenn jedoch nicht einmal der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung schaffen darf, so ist es ausgeschlossen, dass die Behörde ohne gesetzliche Grundlage im Wege einer unbegründeten Mitteilung derartige Rechtsfolgen auf verfassungskonformem Wege herbeiführen kann.
[6] Siehe die umfassenden Nachweise bei Öhlinger/Hiesel, Verfassungsgerichtsbarkeit2 (2001) 267 ff und Potacs/Hattenberger, Art. 144 B-VG, in Rill/Schäffer (Hrsg) BVR Komm (1. Lfg. 2001) Rz 11 ff.
[7] Siehe beispielhaft VfSlg. 14.912/1997 und 14.921/1997.
[8] Wenn das Gebot der verfassungskonformen Interpretation dazu führt, dass gesetzliche Bestimmungen entgegen den in den Materialien zum Ausdruck kommenden Willen des Normsetzers auszulegen sind (wovon der VfGH in ständiger Rechtsprechung ausgeht), so wäre es wohl kaum einsichtig, wenn eine verfassungskonforme Interpretation im Bereich der Gesetzesvollziehung nicht die Deutung einer Erledigung gegen den Willen der entsprechenden Behörde tragen würde.
[9] So VfSlg. 14.803/1997 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen.
[10] Nur am Rande sei erwähnt, dass es in der Frage der Zuerkennung der Bescheidqualität einer Erledigung, de-ren äußere Form nicht den Bescheidmerkmalen des AVG entspricht, Judikaturdivergenzen zwischen den beiden Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts gibt. Vgl. hiezu beispielhaft VfSlg. 14.803/1997.

21.03.2005

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